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31. März 2021

Der Mehrwertigkeitskomplex

Der Gegenspieler zum Minderwertigkeitskomplex

"Er hat einen starken Minderwertigkeitskomplex, daher verkauft er sich immer wieder unter Wert" war die schnelle, wenn auch wenig belastbare Diagnose eines Vorgesetzten zu einem seiner Mitarbeiter. Dabei ist >Minderwertigkeit< allein kein Indikator für die Qualität einer Arbeitsleistung. Und auch nicht über die seelische Gesundheit. Ein "Minderwertigkeitsgefühl" dürfte vielen von uns bekannt sein. Genau genommen ist das gar kein Gefühl, sondern eher die rationale Erklärung von anderen, wirklichen Gefühlen, die dahinter liegen. Dazu gehören zum Beispiel Scham, Schuld, Angst, Schmerz oder Ohnmacht. Manchmal auch ein Mix aus allem. Das typische an Gefühlen: Sie kommen und gehen. Ein gelegentliches "Minderwertigkeitsgefühl" kann beispielsweise eine Reaktion auf eine als peinlich erlebte Situation sein. Wenn wir uns wieder stabilisiert haben, dann vergeht es wieder.

Es ist auch ganz vorteilhaft, sich gelegentlich nicht so wichtig zu nehmen, nicht "der Nabel der Welt" zu sein und mal tiefer zu stapeln. Dann ist das "Minderwertigkeitsgefühl" eine Art Regulator, der uns erdet, also sogar eine gesunde Anpassung. Der Minderwertigkeitskomplex ist ein sehr komplexes Gebilde, wie das Wort schon sagt. Er wird nur zum Teil von diesem Gefühl gespeist und hat viele weitere Einflussgrößen. Und: Ein Minderwertigkeitskomplex ist eine stabile, wenn auch nicht unabänderliche, Determinante.         

                 


Weit aus weniger bekannt ist der >Mehrwertigkeitskomplex<.  Womöglich erregt er deswegen weniger Aufmerksamkeit, weil er sich geschmeidiger in das Gesellschaftsbild integriert. Wir leben in einer Gesellschaft, in der "Mehrwert" mehr Wert ist. Sogar die Steuer unterstützt diese Annahme. Ohne zu hinterfragen, ob die Leistung tatsächlich einen zusätzliche Wert geschaffen hat, wird sie als "Mehrwert" besteuert. Wie wäre zum Beispiel eine "Minderwertsteuer-Rückzahlung", wenn das Ergebnis schlechter ist als vorher?

Komplexe Persönlichkeitsstukturen werden in Krisen besonders deutlich. Sie äußern sich zum Beispiel in Resignation oder Depression, oder, wie es beim >Mehrwertigkeitskomplex< oft der Fall ist, in Konfrontation und Aggression. Die Corona-Pandemie fördert gerade solche Akzentuierungen an die Oberfläche. Der >Mehrwertigkeitskomplex<, von dem japanischem Philosophen Ichiro Kishimi auch "Überlegenheitskomplex" genannt, ist die Überkompensation von Unterlegenheitsgefühlen und Selbstwertzweifeln. Menschen mit einem Mehrwertigkeitskomplex sind permanent darauf bedacht, ihre Besonderheit und Einzigartigkeit zu betonen. Dabei arbeiten sie besonders heraus, was sie positiv von anderen unterscheidet. Prahlerei und Selbstübersteigerung sind dabei nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht die Abwertung anderer Leistungen, um sich selbst in ein besseres Licht zu rücken. Menschen mit einem Mehrwertigkeitskomplex reicht nicht ein "Du bist toll." Sie brauchen ein permanentes "Du bist toll, einzigartig und überragend". Sie sind nicht zu sättigen mit Anerkennung und Bewunderung. Sie sind süchtig nach Bestätigung, Bewunderungs-Junkies.


"Der Mehrwert ist nur dann mehr wert, wenn sich der Wert vermehrt" Sinan Gönül


Wie bei der Minderwertigkeit ist auch der Mehrwert an sich noch kein Grund zur Besorgnis. Es ist sehr hilfreich, wenn wir uns unseres Wertes bewusst sind und uns für unsere Werte einsetzen. Wenn wir durch unsere Kompetenzen, unsere Gedanken oder durch unser Wesen ein Mehr an Wert schaffen, dann bietet das für unseren Selbstwert und für die Gemeinschaft zweifelsfrei einen Vorteil. Auch Eigenlob stinkt nicht, wenn wir auf einen geschaffenen Wert stolz sind. Stolz ist ein Mehrwertigkeitsgefühl. Er stabilisiert unseren Selbstwert.


Was folgt daraus?
Der >Mehrwertigkeitskomplex< ist nicht weniger präsent, nur weil man seltener von ihm hört. Im Gegenteil: Wir tun vieles dafür, dass er in unserer Gesellschaft einen festen Platz einnimmt und die Minderwertigkeitskomplexe zukünftig in den Schatten stellt. "Haste was, biste was". "Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht". "Früher war ich eingebildet, heute weiß ich wie großartig ich bin." Sicher finden Sie noch weitere Beispiele, die, oft auf heitere Art, zu einer beeindruckenden Normalität geworden sind. Wir können dem >Mehrwertigkeitskomplex< mit eben dieser Heiterkeit begegnen. Entweder bei uns selbst, indem wir uns nicht ganz so ernst nehmen. Oder gegenüber Menschen, bei denen wir einen >Mehrwertigkeitskomplex< vermuten. Kaum etwas "verrückt" sie mehr in eine andere Wirklichkeit, als eine gute Prise Humor. 

Neulich verfolgte ich das Gespräch zweier Männer. Der Eine plauderte lang und breit über seine Erfolge. Dann sagte er zu seinem Freund: "So, nun habe ich lange über mich gesprochen - jetzt mal zu dir. Erzähl' doch mal, was du von meinem neuen Buch hältst...."