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14. März 2022

So bin ich halt

Warum Authentizität gern strapaziert wird



Eine Projektmanagerin erscheint zur Morgenbesprechung im Kreise ihrer Kolleg*innen. Sie ist genervt von den sich ständig wiederholenden Ausreden einiger Projektmitarbeiter. Während die Anderen wieder einmal von Ihren Problemen berichten, packt sie ihre Stulle aus, legt die Beine auf den Stuhl neben sich und schaut in die Runde. "Das ewige Gejammer geht mir tierisch auf die Nerven. Ich schlage vor, wir gehen jetzt alle wieder an die Arbeit und erledigen das, wofür wir sonst angeblich keine Zeit haben."

Die anderen Anwesenden machen große Augen, Stille herrscht im Saal.
Die Frau ist geradlinig, unverfälscht, sie steht zu ihrer Überzeugung. Ihre "Echtheit" mutet sie anderen zu, sie ist ganz sie selbst. Einfach authentisch. Dass diese Authentizität ihren Preis hat bleibt oft unerwähnt. Das ungefilterte "Raushauen" kann zu erheblichen sozialen Kosten führen. Außerdem stellt sich die Frage: Gibt es so etwas wie ein Ur-Ich, ein reines Selbst, das ganz und gar unabhängig von allen Einflüssen ist?




Ich vermute zwei Gedanken spielen hier eine ganz wesentliche Rolle:
Authentizität wird gesellschaftlich sehr hoch geschätzt. Frei zu sein, sich an niemandem ausrichten zu müssen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, alles "rauslassen", das ist sehr en vogue. Allerdings wissen wir auch, dass unsere ersten Impulse und Gefühle nicht immer die besten Ratgeber sind. Was wir tun könnten und was wir tun sollten kann weit auseinanderliegen. Authentizität orientiert sich daher sinnvollerweise auch an Rollenerwartungen, persönlichen Zielen und gesellschaftlichen Werten. Wir leben nun mal in einer Welt, in der die eigene Freiheit auch die Freiheit der Anderen ist. Oder: In der die eigene Authentizität mit vielen anderen korrespondieren muss. Up Kölsch: Jeder Jeck is' anders authentisch. Das erfordert ein gutes Maß an sozialverträglicher Authentizität, die eben nicht dem Prinzip "Hau raus" folgt. Möglicherweise geht es in vielen Gesprächen über das "wahre Ich" auch weniger um authentisches Auftreten als um selbstbestimmtes Handeln, um Autonomie.  



"Hier stehe ich. Ich kann nicht anders"
Martin Luther



Womit ich zum zweiten Gedanken komme:
"So bin ich halt" ist ein Totschläger in allen Veränderungsprozessen. Wir gefallen uns in unserer Authentizität, weil sie uns von der Option "Ich könnte auch anders" befreit. "Ich bin wie ich bin" hat etwas Schicksalhaftes, dass uns von der Verantwortung entbindet andere Seiten an uns zu entdecken. Aber sind denn unsere "blinden Flecken" weniger authentisch? Sind die bisher weniger ausgelebten Persönlichkeitsanteile weniger wahr? Authentisch zu sein hat ein gutes Image, es passt in unsere Zeit des Individualismus. Jeder soll zum Ausdruck bringen können was in ihm (oder ihr) steckt. Wer das für sich in Anspruch nimmt betont seine Unabhängigkeit: "Schaut, ich habe es nicht nötig mich zu verbiegen." Wobei nicht wirklich klar ist, ob die vor laufender Kamera fließenden Tränchen oder der coole Spruch tatsächlich so authentisch sind. "Echt" entspricht oft dem, was wir sehen wollen. Bei anderen und bei uns selbst. 

"Du bist doch nicht mehr ganz echt" bekommt damit eine schöne neue Bedeutung: "Ver-rückt" zu sein aus dem traditionellen Ich und auch mal aus der Spur zu fallen. Erlauben Sie sich dieses Maß an Wechselhaftigkeit. Es befreit ungemein.