Meine Erfahrungen als Business Coach widerlegen diese Aussagen zum Teil erheblich. Die „Verrückung“ ins Home-Office oder ins mobile Arbeiten sind in vielen Fällen angeordnet oder zumindest deutlich nahegelegt. Nicht immer ist die Sehnsucht nach der Arbeit in den eigenen vier Wänden so groß wie es in zahlreichen Aussagen dargestellt wird. Viele Berufstätige haben es sogar, früher oder später, als zusätzliche Belastung erlebt, Wohnen und Arbeiten unter einem Dach zu vereinen.
Dabei ist die Kombination von „Work & Life“ unser historischer Ursprung, keine Neuentwicklung. Wir entwickeln uns quasi zurück. Allerdings ist die Lebenssituation heute eine völlig andere, was erhebliche soziale Auswirkungen hat. Neben „Produktivität“ und „Effektivität“ wird diesen sozialen Aspekten meiner Meinung nach viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt – mit unüberschaubaren Langzeitfolgen.
Früher hatte der Handwerksmeister seine Werkstatt im Wohnhaus. Der Bauer führte seine Landwirtschaft vor der Tür. In Produktionsbetrieben lebten die Mitarbeiter in eigens für sie errichteten Werkswohnungen dicht an der Betriebsstätte. Erst im Rahmen der Industrialisierung und steigender Mobilität trennten sich Arbeits- und Privatleben auch räumlich. Der Arbeitsplatz wurde Werk- und Kommunikationsstätte. Erhebliche Lebenszeit wurde mit Kolleginnen und Kollegen verbracht, es entstand Vertrautheit, zumindest aber Kooperation durch Nähe. Die Arbeitsstätte schaffte eine weitere Form der Zusammengehörigkeit, manchmal sogar eine eigene Identität.
Der Verhaltensbiologe Felix von Cube, Pionier auf dem Bereich der Leistungsforschung, definierte drei zentrale Merkmale für die „Lust an Leistung“: Flow, Bindung und Anerkennung. Durch das massive Ausweiten von Home-Office Arbeitsplätzen werden die Motive Bindung und Anerkennung erheblich erschwert. Beide fördern allerdings wesentlich das dritte Motiv, das „Über sich Hinauswachsen“, indem wir die Komfortzone verlassen.
Mit der Anerkennung von Leistung hatten schon vor Corona viele Führungskräfte ihre liebe Not. Dabei sind Mitarbeiter*innen in der Regel keine Lob-Junkies. Sie haben ein viel grundlegenderes Bedürfnis: Sie wollen wahrgenommen werden. „Hallo, hier bin ich! Nimm mich zur Kenntnis!“ Das klappt schon in Präsenzphasen oft nur sehr bedingt. Durch Home-Office und mobiles Arbeiten werden Wahrnehmung und Anerkennung zusätzlich erschwert: Aus dem Auge, aus dem Sinn. Steigt die Anstrengung, während Wahrnehmung und Anerkennung sinken, kann das ein Anwachsen von Aggression zur Folge haben. Unlust entsteht. Langfristig sinken Produktivität und Effektivität.
Auch das zentrale Motiv der Bindung wird durch das Home-Office ausgehöhlt. Home-Office ist dann nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil des Problems. Die beste Strategie für das Herstellen von Bindung und das Entwickeln einer kollektiven Identität ist gemeinsames Handeln. Bindung wird umso intensiver erfahren, je unmittelbarer das gemeinsame Handeln und der gemeinsame (Miss-) Erfolg erlebt werden. (Er-)Leben findet vor allen Dingen analog statt, nicht virtuell. Video- und Telefonkonferenzen sind mechanische Aneinanderreihungen von Einzelaussagen, ihnen fehlt der soziale Schmierstoff, das Informelle. Bestenfalls dienen sie dem Informationsaustausch. Viele meiner Klienten klagen nach mehreren Stunden Online-Konferenzen am Tag über massive Erschöpfung. Der Meetingwahn im Office wird zur Video-Meeting-Posse im Home-Office. Auch Wortschöpfungen wie „Townhall-Meetings“, täuschen nicht über die Ratlosigkeit hinweg, mit der Vorgesetzte ihre digitale Nähe verkaufen wollen.
Coachees kommen eher selten mit einer Home-Office-Erschöpfung ins Coaching. Antriebs- und Lustlosigkeit sind Indikatoren, Reizbarkeit, Konflikte zuhause, Selbstmanagement, gelegentlich gepaart mit somatischen Symptomen wie Unruhe, Schlafstörungen, Verspannungen oder Kopfschmerzen. Das Thema hinter dem Thema ist dann allerdings oft die Unzufriedenheit mit der Arbeitsplatzsituation. Die propagierte „Flexibilität“ und „Performance“ dient dann mehr dem Arbeitgeber als dem Arbeitnehmer: Flexiblere Nutzung von (geringeren) Büroflächen, die Performance der besonders „humanen Mitarbeiterorientierung“ verkauft sich besser, die Übertragung von Verantwortung auf den Mitarbeiter gilt als Prestige-Thema. Dabei ist längst nicht jeder Mitarbeiter ein kleiner Unternehmer im Unternehmen (und will dies auch nicht sein, sonst wäre er womöglich einer geworden). Und es freut sich eben auch nicht jeder über die Selbstorganisation im Home-Office.
Trotzdem begeben sich zahlreiche Arbeitnehmer*innen freiwillig ins Home-Office, obwohl sie sich dort unwohl fühlen. „Das ist für mich das kleinere Übel“ äußerte sich dazu ein Coachee. „Der Chef ist ein Totalausfall, das wurde durch Corona ein weiteres Mal umso deutlicher. Zuhause kann ich diesen Frust leichter kompensieren.“ Führung auf Distanz erfordert zusätzliche Führungskompetenzen. Dabei sind die technischen Herausforderungen noch am leichtesten zu bewältigen. Vor allem geht es um Beziehungskompetenz. Die lernt man aber auch nicht zuhause am Bildschirm, sondern im direkten Austausch mit Artgenossen.
Wenn 95% der Mitarbeiter mit wehenden Fahnen ins Home-Office wechseln, dann kann das also auch ein Feedback über die Führungs- und Arbeitssituation im „Work-Office“ sein.