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24. Juni 2021

Agil als Haltung und Arbeitsweise

Agiles Arbeiten für Coaches und Trainer - ein Interview mit Horst Lempart
Fragen: Winfried Kretschmer von changex.de
Die agile Haltung und Arbeitsweise ist eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches Coaching. Sagt ein Coach. Denn Ergebnisoffenheit, Fehlerfreundlichkeit, Mut zum Neuen, handlungsfähig bleiben, Widersprüche aushalten, den Humor nicht verlieren: Das macht einen guten Coach aus. Und beschreibt zugleich agiles Denken und Handeln.
 

Herr Lempart, Sie haben ein Buch zum Thema "Agiles Arbeiten" geschrieben - und gleich am Anfang steht, Agilität sei eine Illusion, eine Wahrnehmungstäuschung. Das müssen Sie uns erläutern, bitte! 

Wir Menschen schaffen uns Realität durch Worte. Wir bringen Wahrnehmungen in einen Begriff und reduzieren damit Komplexität. Die Dinge werden handhabbarer. Das ist auch vernünftig, um sich im Leben zurechtzufinden. Wir dürfen aber unsere Wortschöpfungen nicht mit der eigentlichen Schöpfung verwechseln. Agilität ist ähnlich abstrakt wie Sicherheit, Freiheit oder Liebe. Wir bekommen erst eine Vorstellung von der Wirkung, wenn wir einen solchen Wert mit Leben füllen. Agilität ist auch kein Wert an sich. Erst mit unserem Denken und Handeln geben wir Agilität einen Ausdruck. Ein hübscher Kerl kann trotzdem ein Kotzbrocken sein, wir müssen erst seine Natur kennenlernen. Wir schließen manchmal von einzelnen Elementen auf das große Ganze. Die Psychologie nennt das einen fatalen Attributionsfehler. Ich möchte vor dem Fehler warnen, Agilität als Allheilmittel zu verstehen beziehungsweise agile Komponenten zur Allgemeingültigkeit zu erheben. Oder das, was agiles Denken und Handeln ausmacht, in einem Begriff festzuschreiben. Das würde ähnlich widersprüchlich wie nachhaltige Einwegverpackung.
 

Ist Agilität ein Mindset? 

Ja, und es ist mehr. Es ist ein Werte- und Glaubenssystem, das die Basis liefert für unser Handeln. Agilität kann nur Wirkung entfalten, wenn wir unserem Denken auch Taten folgen lassen. Ich halte es mit Erich Kästner: "Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es." Ich habe den Eindruck, dass nach wie vor viel über Agilität gesprochen wird, die Umsetzung aber ganz erheblich hinterherläuft. So lange, wie wir schon über Agilität reden, müsste es schon eine Agilität 4.0 geben. Oder, wie die geschätzte Kollegin Sonja Radatz es nannte, eine Ära der Post-Agilität. Anders, als es bei einer Software häufig der Fall ist, wo die neueste Version noch zahlreiche Fehler ausweist, lebt das Mindset mit diesen Fehlern, es kalkuliert sie von vornherein mit ein und provoziert sie sogar. Agiles Denken und Handeln ist ja Entwicklung aus Trial and Error.
 

Was zeichnet dieses Mindset beziehungsweise diese Lebenshaltung aus? 

Die Person, die dieses Mindset zum Leben erweckt, ist die Auszeichnung. Letztlich wird Agilität nur durch den Menschen ausgezeichnet (im doppelten Sinne!), der sie lebt. Für mich ist ein wesentlicher Kern dabei die Bereitschaft, kontinuierlich die Perspektive zu erweitern. Unterschiedliche Wahrnehmungen und Bewertungen können dadurch zu ergänzenden, manchmal konkurrierenden Wahrheiten werden. Nur Störungen schaffen Fortschritt. Wenn Sie beabsichtigen, zu laufen, dann das Bein heben und in der Bewegung plötzlich innehalten, um alle Risiken abzuschätzen, werden Sie instabil. Den Schritt ins Unsichere zu wagen ist Voraussetzung für Weiterentwicklung. Als lebender Organismus, und damit meine ich auch die Organisation, die durch ihre Menschen geprägt wird, arbeiten wir kontinuierlich an Erneuerungsprozessen. Das liegt in unserer biologischen Natur. Die Natur ist zu hundert Prozent agil. Sie hat nur deutlich mehr Zeit und Gelassenheit als der Mensch.
 

Sie beobachten diese agile Haltung in unterschiedlichen Kontexten. Welche Kontexte sind das vor allem? 

Agilität ist kein Gläschen Prosecco, das in irgendeiner Vorstandsetage geschlürft wird. Wobei ich manchmal meine, dort wird vor allem Agilität verordnet: "So Leute, ab morgen arbeiten wir dann mal alle agil." Wobei mit WIR natürlich DIE ANDEREN gemeint sind. Oft erlebe ich, dass Agilität ähnlich betriebswirtschaftlich verstanden wird wie das Lean Management oder die radikale Automatisierung beziehungsweise Digitalisierung. Diese Auslegung ist mir aber viel zu einseitig. Agilität betrifft ja alle Lebensbereiche, auch wenn dort das Wording ein anderes ist. Die Coronapandemie hat viele Menschen vor ganz erhebliche Herausforderungen gestellt, beruflich wie privat. Ergebnisoffenheit, Fehlerfreundlichkeit, Mut, Neues zu wagen, handlungsfähig zu bleiben, Widersprüche auszuhalten, bei allem Ärger auch den Humor nicht zu verlieren, all das sind Anforderungen, die agiles Denken und Handeln ganz gut beschreiben. Manchmal habe ich Klienten im Coaching, die ich in ihrer persönlichen Lebensführung als derart agil erlebe, dass ich sie gerne dem ein oder anderen Unternehmer als Vorbild empfehlen würde. Der Kontext prägt den Menschen, der Mensch den Kontext. Der Wert und die Effekte von Agilität stehen also in diesem Spannungsverhältnis, das ein spannendes Verhältnis ist.
 

Gibt es Gemeinsamkeiten in diesen Kontexten? 

Ja, den Menschen. Er ist die größte Unbekannte in diesem ganzen Spiel. Aber ohne ihn gibt es auch kein agiles Leben. Außerdem braucht jeder Wert eigene Antagonisten, einen Gegenwert, sonst hätte der Wert keine Wertigkeit. Schnelligkeit gäbe es ohne Langsamkeit nicht. Sicherheit gäbe es ohne Unsicherheit nicht. In allen Kontexten leben wir in solchen Spannungsverhältnissen. Das wird auch in der Post-Agilität so bleiben. Was ist der Gegenwert zur Agilität? Keine ganz leicht zu beantwortende Frage. Finden Sie es heraus!
 

Agiles Arbeiten ist in vielen Unternehmen über viele Branchen hinweg zu einem Thema geworden. Wenn Sie nun ein Buch speziell für Coaches und Trainer anbieten - bedeutet das, dass Sie bei diesen Berufsgruppen besonderen Bedarf sehen, den Schritt hin zu einer agilen Arbeitsweise zu tun? 

Absolut. Wir Coaches und Trainer haben einen ganz entscheidenden Fuß in der Türe, wenn es um die Vermittlung von mutigem, experimentellem Denken und auch von Werten geht. Für viele Klienten haben wir sogar eine Vorbildfunktion, weil sie der Meinung sind, wir hätten einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung. Das mag manchmal sogar zutreffen. Für viel wichtiger halte ich aber, wie wir uns selbst in der Begegnung mit unseren Klienten verhalten. Vor allem darum geht es auch in meinem Buch. Was philosophiere ich, und wie lebe ich es selbst? Wenn ich versuche, die Coachees zu kleinen Experimenten einzuladen, und sie zum Perspektivwechsel animiere, mich zugleich aber gegen jede Widerrede sträube, dann werde ich unglaubwürdig. Seminarteilnehmer merken sehr schnell, ob der Dozent hält, was er predigt. Dabei geht es mir überhaupt nicht darum, dass ein Coach jedermann gefällig ist. Ganz im Gegenteil. Erwartungen nicht zu erfüllen, unbequem zu sein, ist wesentlicher Teil meiner Arbeit. Der damalige Bundespräsident Johannes Rau hat einmal in einer Rede uns Deutsche aufgefordert, "mehr Mut zu wagen". Diese Worte möchte ich uns Coaches und Trainern in Erinnerung rufen.
 

Oder, anders gefragt, gibt es eine besondere Affinität zwischen diesen Tätigkeiten und einer agilen Arbeitsweise? 

Im Coaching lade ich meine Klienten immer zum Spinnen und Ausprobieren ein. So zu tun, "als ob". Das macht nicht nur wahnsinnig viel Spaß (nicht nur meinen Klienten!), sondern ist auch ein Kern von Agilität, wie ich sie verstehe. Ich habe eine große Affinität für Widersprüche, Improvisation, Humor, Ideenskizzen et cetera. Ob das jetzt repräsentativ für meine ganze Berufsgruppe ist, weiß ich nicht. Mir zumindest geht es damit ganz gut und bringt auch meine Klienten zu guten Ergebnissen. Ganz im Sinne des im Buch genutzten Spruchs "Scheiter heiter!".


Die Originalfassung finden Sie unter
https://www.changex.de/Article/interview_lempart_agiles_arbeiten